Lieber Leser, ich möchte dich zu einer abendlichen Feierstunde einladen. Sie fand vor etwa 60 Jahren in Deutschland in einem kleinen Kreis statt. Es war in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg. Die Runde hatte kurz vorher eine Reihe von weihnachtlichen Liedern gehört, jetzt saßen sie zusammen und sprachen über das Gehörte.
Manche hatten schon ihre Meinung gesagt, welches Lied ihnen am besten gefallen habe. Dann ergriff jemand, der bis dahin schweigend zugehört hatte, ein wenig verhalten das Wort: „Für mich gibt es eigentlich nur ein Adventslied, Paul Gerhardts ‚Wie soll ich Dich empfangen und wie begegne ich Dir?‘ Was in den Strophen dieses Liedes ausgedrückt wird, das habe ich erlebt, als ich äußerlich und innerlich im Dunkel saß.”
Wohl allen war das Schicksal dieser Frau bekannt, die überanstrengt und blass in ihrer Mitte saß. Ihr Mann war schon am Anfang des Weltkrieges gefallen, den einzigen Sohn hatten die letzten Kämpfe 1945 verschlungen. Seitdem hatte sie kein Lebenszeichen mehr von ihm bekommen. Geblieben war ihr nur eine 12-jährige Tochter und die alte Mutter, die sie bei sich aufgenommen hatte, nachdem sie ausgebombt wurden. Lange Zeit hatte sie nicht arbeiten können, da sie unter den harten Schlägen des Leides innerlich fast zerbrochen war. Inzwischen aber hatte sie ihre Tätigkeit wieder aufgenommen, und man konnte an der Art, in der sie mit den Menschen umging, etwas von einer inneren Kraft spüren, die ihr neu geschenkt worden war. Darum sahen sie alle erwartungsvoll an, hoffend, etwas von ihrem inneren Erleben zu hören und womöglich den Quell zu erblicken, aus dem sie neue, innere Kraft geschöpft hatte.
“Letzten Advent war’s, als ich völlig am Ende war. Meiner Arbeit, die ich im Sommer aufgenommen hatte, konnte ich nicht nachgehen; Stromsperre und Kälte machten das unmöglich. Wie Riesen stürmten die bitteren, klagenden und verzweifelnden Gedanken auf mich ein, und ich konnte ihnen nicht entrinnen. Nebenan saß Elisabeth und versuchte, auf dem Klavier die Melodie von Paul Gerhardts Adventslied zusammenzubringen. Ich hätte mit ihr gerade im Dämmern ein wenig adventlich feiern sollen. Ich wusste, dass sie sich danach sehnte, aber ich konnte mich nicht aufraffen. Wenn doch nur irgendetwas gewesen wäre, was die innere Starre löste! Hätte ich doch nur einmal weinen können! Nun begann Elisabeth nebenan zu ihrem Spiel die erste Strophe des Liedes auch noch zu singen. Leise, aber klar tönten die Worte zu mir herüber: ‚Wie soll ich Dich empfangen?‘ –
Das traf mich! Hatte ich in all den Jahren der Vergangenheit je daran gedacht, IHN zu empfangen? Damals, als wir noch sorglos zusammen saßen? Wir hatten doch alle nur an uns gedacht und völlig genug gehabt an uns selbst. Ich auch. Im Grunde war der Heiland Jesus Christus eine recht ferne, verschwommene Figur gewesen. Der Zauber der Stimmung hatte Ihn verdrängt, und keine Not in uns hatte nach Ihm die Hände ausgestreckt. Es ging uns ja gut! Gewiss, wir hatten auch damals gesungen: ‚O aller Welt Verlangen‘, aber wie oberflächlich war das gewesen. Hatten wir uns darum so verloren in der Welt und jeden Halt eingebüßt, weil wir immer nur uns selbst, aber niemals Ihm begegnet waren? Jetzt, in dem Zusammenbruch, der schier alles verschlungen hatte, was ich einmal besaß, empfand ich erst, wie arm der Mensch ist ohne Christus. Ich musste langsam dahinsiechen wie so viele andere, weil ich nur mich selbst kannte. Sollte noch einmal ‚mein Herz grünen in stetem Lob und Preis‘, dann musste ich IHN empfangen.
Da sind mir zum ersten Mal nach langen Jahren wieder Tränen gekommen. Tränen des Schmerzes, dass ich an meinem Heiland so lange vorübergegangen war. Tränen aber auch der Freude, dass Er dennoch zu mir kam. Ich bat Gott um Vergebung und tat aufrichtige Buße. Nun wusste ich: Jetzt bin ich ein Kind des Vaters im Himmel, weil Sein Sohn zu mir gekommen ist. Ich wusste, dass ich nun erst auf rechter Straße war, und dass ich nun künftig auch die Aufgabe erfüllen könne, ‚Seinem Namen zu dienen, so gut ich kann und weiß.“