Der Weg zueinander

Monika war von Herzen froh gewesen, als ihres Mannes Mutter sich bereit erklärt hatte, zu ihnen zu ziehen. Sie erwarteten gerade ihr zweites Kind. Ihre Schwiegermutter war erst Mitte der Fünfzig, also noch rüstig, ihr tatkräftig zu helfen. Ihr Mann war Angestellter eines großen Betriebes und sie hatten eine geräumige Dienstwohnung. Somit war genügend Platz vorhanden.

Frau Gerber, Ulrichs Mutter, hatte ihr Leben lang viel geleistet. Es war ihr geradezu ein Bedürfnis, für andere zu arbeiten und zu sorgen. Die junge Frau hatte dankbar die Entlastung durch ihre Schwiegermutter angenommen.

Die Jahre gingen dahin. Nun besuchten die beiden Kinder schon die Schule. Frau Gerbers Kräfte ließen nach. Langsam merkte sie, dass Monika ihre Mithilfe auch nicht mehr wünschte. „Lass nur, Mutter! Ich mache das viel schneller“, hieß es nun häufig.

Schmerzlicher noch empfand sie es, dass auch die Kinder sich von ihr zurückzogen. Das stille Zimmer der Großmutter verlor für sie den Reiz. Frau Gerber war eine vernünftige Frau. Sie sagte sich nüchtern, dass die Kinder durch Schule und Spielgefährten mehr und mehr beansprucht wurden. Aber trotzdem schmerzte es sie, allmählich in den Hintergrund geschoben zu werden. Offensichtlich benötigte niemand ihren Rat oder ihre Hilfe.

Außerdem war es Monika nicht recht, dass Mutter bei Einladungen von Gästen bis zum Schluss blieb, ja sich gern an der Unterhaltung beteiligte. – Beide Frauen hüteten sich vor Streit, aber Monika seufzte, und die alte Frau grämte sich. „Ich bin überflüssig“, sagte sie traurig. „Ulrich ist durch seinen Beruf so überfordert, dass er keine Zeit für mich findet.“ Gerechterweise fügte sie bei sich hinzu: „Er ist gut zu mir, aber natürlich gehört er in erster Linie zu seiner Frau und den Kindern. Ja, wenn Monika dann und wann ein liebes Wort für mich hätte…“

In der Tat war Monika eine kühle Natur. Das bewahrte sie wohl vor Ausbrüchen des Temperaments, aber sie bedachte nicht, dass ein alter Mensch schnell friert und ein wenig wärmende Liebe braucht, um nicht zu verbittern.

Eines Tages sprach sich die junge Frau einer Freundin gegenüber aus: „Ich wünschte, Mutter zöge in ein Altenheim.“ – „Aber sie ist doch noch so gesund und hilfsbereit. Sie spült dir das ganze Geschirr, bügelt die Wäsche und bessert sie aus“, entgegnete die andere. Warmherzig fügte sie hinzu: „Sie ist so bescheiden, und man spürt, wie lieb sie euch alle hat.“

„Aber wenn sie nur nicht so empfindlich wäre!“ – „Wer weiß, wie wir selbst einmal im Alter sind. Vielleicht ganz unausstehlich, jammern über alles und haben immer schlechte Laune.“ Die beiden jungen Frauen lachten, doch Monika war innerlich getroffen.

Am Abend fragte sie ihre Kinder: „Habt ihr Großmutter schon ‚Gute Nacht‘ gesagt?“ – „Das tun wir doch schon lange nicht mehr“, sagte Gert. – „Ich wünsche es aber. Geht sofort zu ihr und vergesst es nicht mehr!“

Frau Gerber staunte, als die Kinder kamen. „Eigentlich könntest du uns noch was erzählen – wie früher“, schlug Ulrike vor.

Gerade als Frau Gerber ein Buch zur Hand nahm, um am Schluss des Tages noch zu lesen, klopfte es an ihre Tür und Monika trat ein. „Nur für ein Viertelstündchen“, sagte sie freundlich. „Ulrich ist noch nicht zurück.“ Frau Gerber verbarg ihr Verwundern. Ihr Herz war noch erwärmt vom Besuch der Enkelkinder. „Ich freue mich, wenn du kommst“, sagte sie schlicht.

Bald waren sie in ein Gespräch vertieft. Monika dachte: Mutter ist geistig doch noch recht rege. Frau Gerber sagte sich heimlich: „Ich will Geduld haben. Monika ist noch jung. Ich will sie recht lieb haben und mich nicht so schnell kränken. Sie ist ein verschlossener Mensch. Vielleicht öffnet sie mir allmählich ihr Herz und schenkt mir einen kleinen Platz darin.“

Wie kurz ist doch der Weg zueinander, wenn man ihn aus Liebe sucht. Selbst wenn es etwas länger dauert, es Geduld und Vertrauen bedarf, beglückt es die Herzen und lässt Alt und Jung glücklich miteinander leben.