Das vergessene Morgengebet

Ein Bergbauer hatte die lobenswerte Gewohnheit, sein Tagewerk jeden Morgen mit Gebet anzufangen und es am Abend auf gleiche Weise zu beschließen. Das war sehr gut, denn das Beten war bei ihm nicht eine leere Form. Es war ein Reden mit Gott und ein Hören auf Gottes Stimme. Er empfing beim Gebet immer einen Segen und war nach dem „Amen“ reicher als vorher.

Aber einmal wäre dieser Bauer beinahe um seinen Morgensegen gekommen – und das ging so zu:

Es war zur Zeit der Heuernte und die Arbeit drückte. Unser Bauer war am Abend vorher sehr spät ins Bett gekommen und wollte am Morgen sehr früh, jedenfalls noch vor dem ersten Hahnenschrei, wieder auf der Wiese stehen, um beim Mähen vom Tau zu profitieren. Auch liebte er es, immer einer von den ersten zu sein, denn von den Schlafmützen hielt er gar nichts.

Als er nun aber morgens aufwacht, schaut schon die Sonne zu seinem Kammerfenster herein und malt zitternde Kringel auf seine Bettdecke. Das merken und aus dem Bett springen ist für unsern Bauern eins. Im Nu steckt er in den Kleidern, hat die Sense auf dem Rücken und eilt mit Riesenschritten zum Dorf hinaus.

Aber sieh da – plötzlich zögert er einen Augenblick. Was ist’s nur? Hat nicht eine Stimme hinter ihm gerufen: „Marte, du hast ja das Beten vergessen!“?

„Ach was“, erwidert er dem ernsten Mahner, der ihm nicht auf den Fersen folgt, sondern da drin unter dem Brusttuch sitzt, „die Zeit ist heute knapp. Bin ohnehin schon viel zu spät dran. Ich will unterwegs beten.“

Und er versucht seine Gedanken zu einem kurzen Gebet zu sammeln; aber es geht nicht. „Marte“, drängt vielmehr der Mahner. „Marte, was ist’s nur mit dir? Hast du wirklich keine Zeit mehr für deinen Heiland?“

„Doch, doch! Nur jetzt im Augenblick nicht. Nachher dann, wenn ich abgemäht habe!“

„Wie, Marte, gehst du so mit deinem Heiland um? Wie, wenn er auch einmal sagen würde: ,Ich habe jetzt keine Zeit für dich, Marte! Später, später – nur jetzt im Augenblick nicht!‘?

Und dem Marte wird’s heiß. Die hellen Schweißtropfen stehen ihm auf der Stirn. „Tropf, der ich bin!“ murmelt er zwischen den Zähnen. Und dann – kehrt! Und heim geht’s im Sturmschritt! Und nach wenigen Minuten liegt er im Kämmerlein, hinter verschlossener Tür, auf seinen Knien und ist ganz allein mit seinem Heiland. Und was die beiden miteinander geredet haben, brauch ich euch nicht zu verraten.

Aber, dass sich der Marte jetzt genügend Zeit zum Beten genommen hat, und dass er nach dem Amen zum zweitenmal hinausgegangen ist zur Arbeit mit einem Lobgesang im Herzen, und dass er hernach einzigartig geschnitten hat, auch ohne Tau im Gras, also dass er zur rechten Zeit fertig geworden ist: das hat der Marte selber lange Zeit nachher einem Nachbarn mit leuchtenden Augen erzählt und hinzugefügt: „Probier’s nur, und geh jeden Tag mit deinem Heiland an die Arbeit. Du wirst sehen – dann wird’s gut gehen.“