Die weiße Rose

Es war im Spätsommer, als ich in der Dämmerungsstunde am Ufer eines Flusses entlang auf dem Weg zur Versammlung war, wo ich predigen sollte. Ein seltsames Gefühl verlangsamte meine Schritte. Ich stand einen Augenblick still und schaute hinunter auf das ruhig dahinfließende Wasser. Ich dachte zurück an vergangene Zeiten: Was mögen diese Ufer an allerlei Ereignissen gesehen haben? Es gab Zeiten, da mich solche Gedanken zum inneren Erschauern brachten. Aber an diesem Abend vergrößerte sich die Bürde, die bereits auf meinem Herzen lag.

Ich wandte mich, um weiter zu gehen, da die Stunde des Abendgottesdienstes nahte. Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit durch die Bewegung einer jungen Frau angezogen, die von einer Bank nahe am Wasser aufgestanden war und sich dem Rand des Uferdammes näherte. Etwas an ihrer Haltung ging mir wie ein Stich durchs Herz, und ich schritt auf sie zu.

„Entschuldigen Sie“, begann ich ruhig. Sie zuckte nervös zusammen und schaute umher, als ob sie am liebsten weglaufen wollte. Ihre Augen, offensichtlich voll tiefen Kummers und bitterer Enttäuschung, erschreckten sogar einen, der gewöhnt war, in den Versammlungen solchen Menschen zu begegnen, die im Leben entgleist oder entwurzelt waren. „Verzeihen Sie mir, dass ich als Fremder mir erlaube, Sie anzusprechen“, sagte ich. „Aber ich bin ein Prediger und auf dem Weg zur Versammlung gleich hier um die Ecke. Sie sind offenbar in Not. Möchten Sie nicht heute Abend in den Gottesdienst kommen? Dort können Sie Ruhe finden von Ihrem Kummer durch den Einen, der bereit ist, Ihr Freund zu sein.“

Als ich das Wort „Prediger“ aussprach, verfinsterte sich ihr Gesicht, und sie sagte entrüstet: „Nein, ich gehe nicht in Ihre Versammlung. Ich will von Ihrer Religion nichts wissen. Lassen Sie mich allein!“

Ich war vorher bei Freunden zum Essen eingeladen gewesen, und beim Weggehen hatte mir meine Gastgeberin eine schöne, weiße Rose geschenkt. Obgleich ich vorgezogen hätte, nichts im „Knopfloch“ zu tragen, empfand ich, ich sollte sie annehmen und anstecken.

Wie unter einem Impuls handelnd, den ich nicht verstand, nahm ich jetzt die Rose und streckte sie der unglücklichen Frau entgegen. Es war eine seltsame Lage, aber ich durfte nicht ungehorsam sein, da ich empfand, dass es eine Führung Gottes war.

„Wollen Sie diese weiße Rose annehmen?“ fragte ich sanft. „Vielleicht wird sie Ihnen zu einem Zeichen, dass Sie daran erinnert, dass im Versammlungshaus Freunde sind, die Ihnen helfen möchten, wenn Sie kommen würden!“

Wie die Wirkung meiner Gabe sein würde, wusste ich nicht. Sie schrak zurück, als ob ich sie geschlagen hätte. Gemischte Gefühle kämpften auf ihrem Gesicht. „Nein, o nein!“ keuchte sie. Dann – zu meinem Erstaunen – streckte sie die Hand aus und nahm die Rose. Ich sah Tränen in ihren Augen. Ich musste nun gehen, aber ich lud sie nochmals zu der Versammlung ein.

Während des ganzen Gottesdienstes, sogar beim Sprechen, lag eine unheimlich schwere Last auf meinem Herzen. An diesem Abend hatte ich ganz klar und deutlich die Not einer verzweifelten Seele erblickt. Innerlich flehte ich zum Herrn um die Errettung dieses Menschen.

Nach Schluss meiner Ansprache sah ich hinten in einer Ecke des Saales die Frau, zu der ich am Ufer des Stromes gesprochen hatte. Mein Herz flohlockte. Nun war sie also doch gekommen! Gewiss hatte Gott mit ihr gesprochen. Sicher war es seine Hand gewesen, die mich veranlasst hatte, mit ihr zu sprechen.

Der Gottesdienst ging zu Ende, und ein anderer Bruder gab eine Einladung, zum Herrn Jesus zu kommen. Da sah ich die Frau plötzlich aufstehen und nach vorne kommen.

„Ich habe die Einladung, zu Jesus zu kommen, gehört, und ich will zu ihm kommen. Glauben Sie, dass er eine Sünderin, wie ich es bin, retten kann?“ fragte sie. Aber bevor ich antworten konnte, fuhr sie fort: „Ich war heute Abend im Begriff im Fluss mit meinem Leben Schluss zu machen, weil ich es nicht mehr ertragen kann das Leben, das ich seit fünf Jahren führe, weiterzuleben. Ich war gerade bereit ins Wasser zu springen, als jener Herr dort mich ansprach und mich bat hierher zu kommen. Ich schlug es barsch ab. Aber dann gab er mir diese weiße Rose. Zuerst wollte ich sie nicht annehmen, denn sie war das Symbol von etwas, das ich verloren hatte. Aber dann musste ich sie nehmen. Sie glich jener Rose, die mir meine Mutter gab, als ich vor fünf Jahren unser Heim verließ. Es war ihre Lieblingsblume.

Als ich die Rose heute Abend annahm, hörte ich wieder ihre Stimme wie damals, als sie mir Lebewohl sagte: ‚Meine Tochter, du verlässt deine Mutter gegen ihren Willen, um in eine sündige Welt hinauszugehen. Ich fürchte in ein sündhaftes Leben! Wenn du weit entfernt bist, und du siehst eine weiße Rose, denke daran, dass deiner Mutter Abschiedsgeschenk begleitet ist von dem Gebet für die Rückkehr ihres Kindes. Weder Tag noch Nacht werde ich aufhören zu beten, dass Gott dich wieder heimbringen möge als eine für ewig Gerettete.‘

Diese reine, weiße Rose brachte mich heute Abend wieder zur Besinnung. Der Prediger sagte hier wäre einer, der mir helfen würde. Glauben Sie, dass er eine Sünderin wie mich annimmt?“

Es war nicht schwer, ihr diese Frage zu beantworten. „So kommt denn und lasst uns miteinander rechten, spricht der Herr. Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden; und wenn sie gleich ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden“ (Jesaja 1,18). „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, auf dass alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (Johannes 3,16).

Sie hörte aufmerksam zu. Als man ihr diese und andere Stellen der Heiligen Schrift gab, brach sie in Tränen aus und fiel auf ihre Knie, bekannte ihre Sünden und bat den Herrn um Vergebung. Sie stand auf als eine neue Kreatur in Christus. Ihr erster Wunsch war, heimzugehen zu ihrer Mutter.

Wie wichtig ist es für Diener Christi, und das sollen wir alle sein, dass ihre Herzen offen sind für die Führung seines Heiligen Geistes! Möge uns Gott sehende Augen und hörende Ohren schenken, damit wir himmlische Weisheit erlangen, um den Weg zum Herzen des Sünders zu finden, den Gott an unsern Lebenspfad führt, um ihm behilflich zu sein, den Weg des Lebens zu finden und zu gehen.

O Gott, wie muss das Glück erfreu’n,
der Retter einer Seel‘ zu sein!