Evangeliums Bote 2012 Nr. 4

Auszug:

Gnadenbringende Weihnachtszeit

Es war im Krankenhaus. In dem größten Zimmer waren sie alle zusammengebracht, die lieben bleichen Gestalten; die einen in ihren Betten liegend, matt und schwach, die anderen auf Stühlen sitzend, auch eine Schar augenkranker Kinder.
Unter den Kranken war auch ein alter Mann, der viele Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Wie mir der Arzt sagte, konnte menschliche Kunst ihn nicht mehr vom Tode retten. Schon manchmal hatte ich versucht, mit ihm zu reden, freundlich und auch ernst; aber eisiges Schweigen, trotziges Zusammenpressen der Lippen oder höhnisches Auflachen war  jedes mal seine Antwort gewesen. Auch an der Weih-nachtsfeier wollte er nicht teilnehmen: „Hab mich mein Lebtag nicht um Gott geschert, wozu noch jetzt im Sterben!? Lassen Sie mich ungeschoren!“
Ich aber ließ nicht locker. So gab er denn endlich nach: „Meinetwegen mach ich den Rummel mit!” – Und da lag er nun inmitten der anderen Kranken, sein schon matt gewordenes Auge immer nach dem Lichtschein gerichtet. Ich hielt – so erzählt der Prediger weiter – eine An-sprache über den Text: “Kommet her zu Mir alle, die ihr mühselig und beladen seid! Ich will euch erquicken!”,  und versuchte mit herzlichen Worten das Herz der Zuhörer für den Weihnachtstrost zu öffnen, den das Christkind von Bethlehem in den Jam-mer der Sünde hineingebracht hat. Ob es mir gelang? Gott, der Herr, weiß es. Ich wusste nur das eine, dass mein Wort auf den armen Kranken, der mir am meisten am Herzen lag, der mit todkrankem Leib und mit verlorener Seele gerade vor mir lag, auch nicht den geringsten Eindruck zu machen schien. Nun fingen die Kinder an, mit ihren herzigen Stimmen das alte, liebe Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ zu singen. Da geschah etwas Unerwartetes. Als sie die zweite Strophe sangen: „Durch der Engel Halleluja tönt es laut von fern und nah: Christ, der Retter ist da! Christ, der Retter, ist da!”, da stürzten dem alten Mann Tränen aus den Augen, und die trotzige Brust hob und senkte sich in tiefer Bewegung.
Ich blieb mit ihm allein. „Was ist Ihnen?”, fragte ich ihn. Ein flüsterndes Stammeln bewegte seine Lippen. Ich beugte mich zu ihm nieder, um zu hören. Was höre ich da? – „Christ  der  Retter  ist  da!  Christ  der  Retter  ist  da!“  Und mit einem Male schreit es aus seinem Herzen heraus: „Für alle gibt‘s Rettung, für alle, nur für mich nicht! Meine Sünden sind zu groß, als dass sie mir vergeben werden könnten! O, meine Sünden! Meine Sünden!” – Ich werde den verzweifelten Ausdruck seiner Augen nie vergessen, mit dem er mich ansah: „Gibt‘s keine Rettung für mich? Keine?” Da habe ich ihm meine Hand auf seine Stirn gelegt und gesagt: „Ja, es gibt eine Rettung auch für Sie! Christ, der Retter, ist da, auch für Sie!” Und dann habe ich mein Testament aufgeschlagen und es ihm auf sein Bett gelegt: „Hier steht es geschrieben: ‚Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren!‘ Allem Volk, hören Sie! Allem Volk! Das gilt auch Ihnen!” – Mit zitternder Hand griff er nach dem Testament und sagte: „Sollte es wahr sein? Sollte es wahr sein?”
Noch lange haben wir miteinander geredet. Ich habe ihm die Geschichte vom Schächer am Kreuz erzählt, und wir haben sie miteinander gelesen. Immer ruhiger wurde er, immer friedevoller, und nach einigen Tagen ist er eingeschlafen. Seine letzten Worte waren der weihnachtliche Triumphgesang:

„Christ, der Retter ist da!”